T. Schönfelder: Roter Fluss auf Schwarzer Erde

Cover
Titel
Roter Fluss auf Schwarzer Erde. Der Kuban und der agromeliorative Komplex: Eine sowjetische Umwelt- und Technikgeschichte, 1929–1991


Autor(en)
Schönfelder, Timm
Reihe
Geschichte der technischen Kultur
Erschienen
Paderborn 2022: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 109,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Merl, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Schon Alexander Bogdanov hat in seinem utopischen Roman „Der Rote Stern“ angedeutet, welches Potential Bewässerungsprojekte und Flussumleitungen für eine Agrarwirtschaft haben könnten, deren fruchtbare Böden unter Dürre leiden. Bisherige Studien widmeten sich vor allem Mittelasien und betonten die Kontinuität der Projekte vom zarischen Russland her.1 Der Titel von Timm Schönfelders Studie, die im Rahmen des Tübinger SFB „Bedrohte Ordnungen“ entstand, verspricht deshalb, eine Forschungslücke zu schließen und den Blick auf Bewässerungsarbeiten zu werfen, die im Vorkaukasus überwiegend nach Stalins Tod bereits in Kenntnis der möglichen Schäden (Bodenversalzung, Erosion und Überwässerung) und der potenziellen Lösungen „sehenden Auges“ (S. 61) begonnen wurden. Bekanntlich traten die schädlichen Folgen erneut auf. Die zunehmende Kritik an den Bewässerungsprojekten führte Ende der 1980er-Jahre zur Einstellung der Arbeiten.

Wer eine Regionalstudie erwartet, die auf Basis dichter Beschreibung herausarbeitet, warum dennoch die Drainage vernachlässigt und mit dem Wasser nicht sparsam umgegangen wurde, wird enttäuscht. Schönfelder verlässt immer wieder die lokale Perspektive und nimmt die Bewässerungsprojekte insgesamt in den Blick. Die Aussagen im Fazit knüpfen allein an den im Einleitungskapitel präsentierten Konzepten an und nehmen nicht die interessanten Ergebnisse auf, die in den Kapiteln 3 bis 6 zu finden sind. Das rückt zwei entscheidende Unzulänglichkeiten in den Blick: die fehlende Reflexion über das methodische Herangehen (konkret: wie man aus dem sowjetischen Archivmaterial überhaupt verlässliche Erkenntnisse erzielt) und einen Ansatz, der nirgendwo aus dem Referieren ausbricht, um zu eigenständigen Bewertungen zu gelangen.

Schönfelder kritisiert, bisherige Autoren hätten nur „allgemein zugängliches Material“ ausgewertet (S. 1). Doch auch das Archivmaterial folgt nur den offiziellen Sprachregelungen und bewahrt Tabus. Die Verfasser verfolgten systemkonform eigene Interessen. Indem Schönfelder ihren Schuldzuweisungen Glauben schenkt, reproduziert er die vom Regime gewünschte Interpretation, die Verantwortung auf untergeordnete Organe (hier: das Wasserbauministerium) abzuschieben.

Schönfelder verspricht einen empirisch fundierten Beitrag zum tieferen Verständnis des sowjetischen Agrarsystems, der auch zentrale „Idiosynkrasien“ der Herrschaftskultur beleuchtet (S. x). Im ersten Kapitel „Natur: Der Kuban im Prisma der Umweltgeschichte“ (S. 1–32) erörtert er den Forschungsstand und präsentiert Konzepte zu Herrschaft und Bewässerung ohne besonderen Bezug auf den Kuban. Das zweite Kapitel „Raum: Sumpfland zur Kornkammer, Steppen und Oasen“ (S. 33–54) blickt auf den Kuban in den letzten zwei Jahrhunderten. Es ist überfrachtet mit Informationen sowie zeitlichen und inhaltlichen Sprüngen. Erst das dritte Kapitel ist leserfreundlich klarer fokussiert: „Zentrale Macht: Vom Weltkrieg zur Wasserwirtschaft“ (S. 55–136). Es schildert den Bedeutungsgewinn der Melioration nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem zuvor die Erzeugung von Wasserkraft im Vordergrund stand. Die institutionelle Festigung der Wasserwirtschaft gipfelte 1965 unter Leonid Brežnev in der Gründung eines eigenständigen Wasserbauministeriums. Kapitel 4, „Periphere Praxis: Melioration in Krasnodar und Stavropol“ (S. 137–188), blickt auf die lokale Komponente. In Krasnodar ging es vor allem um den Schutz vor Überschwemmungen, in Stavropol dagegen um die Grundversorgung mit Wasser. Angesprochen werden auch Auseinandersetzungen zwischen den Parteiführungen beider Regionen. Kapitel 5, „Wissen: Melioration zwischen Theorie und Verheißung“ (S. 189–215), behandelt den Umgang mit den Erkenntnissen der Bodenkunde und die wissenschaftliche Auseinandersetzung um das richtige Vorgehen bei der Bewässerung. Kapitel 6, „Dystopie: Reformen ohne Netz und doppelten Boden“ (S. 217–264), referiert Beschlüsse über vorgesehene Veränderungen der 1980er-Jahre und die zunehmende Kritik am Wasserbau, ohne hinreichend zu berücksichtigen, dass die meisten Beschlüsse nicht mehr umgesetzt wurden. Ärgerlich ist Kapitel 7, „Zur zweiten Million: Fazit und Ausblick“ (S. 265–270). Hier präsentiert der Autor apodiktische Behauptungen in kurzen Sätzen.

Schönfelder benennt im Einleitungskapitel, was er nachfolgend betrachten will. Er nimmt dabei weder eine Operationalisierung vor noch formuliert er Untersuchungsfragen. Doch welches der präsentierten Konzepte eignet sich für die eher traurige Realität der Sowjetgesellschaft nach Stalins Tod? Schönfelder verweist etwa auf Karl August Wittfolgels hydraulische Gesellschaft. Doch James Scotts high modernism, der im Glauben an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt eine vollkommene Kontrolle über die Natur anstrebt, passt eher zu Stalins Ambitionen. An Schönfelders Behauptung, Infrastrukturen seien Instrumente und Quellen der Macht gewesen, weckt seine anschließende Darstellung Zweifel. So spricht er von den Kanälen als „lange Arme des Staates, die in jedes Dorf hineinreichen, um es zu einem Teil der modernen Gesellschaft zu machen“ (S. 26f.). In den Kapiteln 3 und 4 beschreibt er dann aber sowjetisches Staats- und Systemversagen, das in jedes Dorf hineinreichte und verhinderte, dass es zu einem Teil der modernen Gesellschaft wurde. Und bedurfte es nach der von Stalin etablierten und wirksam funktionierenden Bevormundung des Agrarsektors tatsächlich einer zusätzlichen Kontrolle über Bewässerungsstrukturen?

Schönfelder weist den Wasserbauern mit ihren „grandiosen Versprechungen“ die Hauptschuld am Fehlschlag der Bewässerungsarbeiten zu und behauptet, sie hätten die Sowjetgesellschaft gezielt hintergangen. Als Referenz dafür, dass „eine Klasse von Wasserbau-Experten mittels Hydro-Infrastrukturen die Bevölkerung ausbeutete und ihre eigene Macht sicherte“ (S. 11), verweist er auf Julia Obertreis und Klaus Gestwa.2 Aber war die expandierende Bewässerungsfläche für die Melioratoren wirklich eine „Goldmine“? Dass das Wasserbauministerium 1985 „26 wissenschaftlich-technische und 68 Planungsinstitute und über 4.000 Bauorganisationen und -trusts mit 1,7 Mio. Arbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern“ kontrollierte sowie über ein Budget verfügte, das der landesweiten Gesundheitsversorgung entsprach (S. 13), belegt das noch nicht. Diese Schuldzuweisung überzeugt auch deshalb nicht, weil seit Brežnev keineswegs nur für den Bewässerungsbau enorme Finanzmittel ohne nennenswerten ökonomischen Effekt verschwendet wurden. So flossen ähnlich hohe Mittel über drei Jahrzehnte in die „komplexe Mechanisierung der Agrarproduktion“. Auch hier kam man dem gesteckten Ziel bis zum Ende der Sowjetunion nicht näher. Die Ursachen können also nicht allein im Wasserbau gelegen haben, vielmehr muss die Erklärung in den Schwächen des ökonomischen und politischen Regimes gesucht werden. Dazu liefert Schönfelder durchaus konkrete Anhaltspunkte.

Der Autor dokumentiert, dass weder moderne Beregnungsmaschinen noch das für die Drainage erforderliche Baumaterial in der Sowjetunion produziert wurden (vgl. S. 127, 149, 156, 176, 191, 240, 258). Evgenij Alekseevskij, der Minister für Wasserbau, protestierte gegen das Ausbleiben der notwendigen Inputs. Mit seiner Forderung, zur im Westen praktizierten Tröpfchenbewässerung überzugehen, blitzte er 1973 beim Ministerpräsidenten Aleksej Kosygin ab: Die Sowjetunion könne aus Kostengründen nicht die notwendigen hocheffizienten Gerätschaften importieren (S. 116, vgl. auch S. 92, 113f.). Die nachgebauten Bewässerungsmaschinen waren minderwertig und hielten in keiner Weise dem Vergleich mit den amerikanischen Originalen stand (S. 242). Der bekannte Agrarökonom Alexander Nikonov resümierte, dass nichts für die Stagnationsphase so charakteristisch war wie der gescheiterte Versuch von Wissenschaftlern, die „Grüne Revolution“ zu initiieren: Ihre Vorschläge zur Realisierung scheiterten daran, dass das Planungssystem nicht in der Lage war, die erforderlichen Produktionsfaktoren im Komplex bereitzustellen. Irgendetwas fehlte immer: die erforderlichen Dünge- oder Pflanzenschutzmittel bzw. die notwendige Technik (S. 107f.). Der von Schönfelder behauptete Gegensatz zwischen Bodenkundlern und Wasserbauern ist deshalb nicht glaubwürdig: Die Jahresberichte der Wasserbauer zeigten, dass sie in der Bedrohungsdiagnose (Bodenerosion) und der Lösung (Drainage) übereinstimmten. Doch ihre Ansichten über die Schuldfrage hätten sich unterschieden: Während die Bodenkundler die Melioratoren in der Pflicht sahen, hätten die Wasserbauer „unbeirrt auf Versorgungslücken in anderen Wirtschaftsbereichen wie der Schwerindustrie und der mangelhaften zentralen Koordination der Ministerien“ verwiesen (S. 201). Das von Schönfelder präsentierte Material belegt, dass sie das zu Recht taten! Der Autor fragt aber nie, ob die Parteibeschlüsse überhaupt durchführbar waren, sondern übernimmt die Schuldzuschreibungen, mit denen Partei und Regierung für ihre Fehler untergeordnete Organe verantwortlich machten.

Schönfelder behauptet, mit dem „agromeliorativen Komplex“ (AMK), einer Verbindung von Bewässerungsindustrie, Wissenschaft und Nomenklatura (S. 6f.), einen wichtigen neuen Begriff zu etablieren. Das führt direkt zu seinem zentralen Missverständnis. Er suggeriert, der AMK sei etwas Ähnliches gewesen wie der „militär-industrielle Komplex“ (MIK) und habe eng mit der Industrie kooperiert. Dabei verkennt er grundlegend die Funktionsmechanismen des Sowjetsystems. Der Begriff AMK und der „Oberbegriff“ „Agrar-Industrie-Komplex“ (AIK) dienten allein dazu, etwas zu suggerieren, was die Sowjetunion bis zu ihrem Ende nie bereitstellte: eine direkte Verbindung des Agrarsektors mit einer Vorleistungs- und Verarbeitungsindustrie auf dem technischen Niveau der Zeit. Sowohl der AIK wie der AMK mussten letztlich die von der Industrie produzierten Ausschuss-Maschinen und Materialien, die in keiner Weise ihren Anforderungen entsprachen, abnehmen. Die Beschwerden darüber, auch an den Generalsekretär der Partei, verhallten unbeachtet. Das hinderte das Regime aber nicht, die Wasserbauer an den Pranger zu stellen, weil sie die versprochenen großartigen Erfolge nicht erreichten. Wenn Schönfelder darüber verwundert ist, dass selbst harsche Kritik am Wasserbauministerium und dem Minister ohne Folgen blieb (vgl. u.a. S. 99f., 106, 110f., 232), zeigt das, wie wenig er die Spielregeln der politischen Kommunikation des Sowjetregimes durchschaut. Dabei liegt es auf der Hand, warum die Behörden so handelten: Die kritisierenden Lenkungsorgane waren sich sehr wohl ihrer eigenen Verantwortung für diese Mängel bewusst. So bewilligte die staatliche Plankommission weder den Bau moderner Fabriken noch stellte sie geeignete Materialien zur Verfügung. Schönfelder behauptet dagegen: „Doch erwuchs aus einem engen persönlichen Netzwerk von Günstlingen ein hypertropher bürokratischer Apparat, der sich selbst stützte“ (S. 266). Obwohl in alle drei „Komplexe“ seit Brežnev viel Geld floss, gab es gewaltige Unterschiede. Nur der MIK erlangte gegenüber den zentralen Regulierungsinstanzen eine beschränkte Durchsetzungsfähigkeit. Übrigens: Nachdem die Agrarbetriebe seit den 2000er-Jahren Zugang zu Landtechnik auf westlichem Niveau haben und über Investitionen selbst entscheiden, explodieren die Erträge der russischen Landwirtschaft!

Stichhaltig ist Schönfelders Kritik an der ständigen Veränderung der institutionellen Zuständigkeiten. Die Abtrennung des Wasserbaus vom Agrarministerium war für die Agrarproduktion kontraproduktiv (S. 93–105). Das Regime glaubte, alles sei nur eine Frage der richtigen Organisation der Kontrolle, und „löste“ vermeintlich Probleme, indem es immer neue Zuständigkeiten schuf. Korrekt benennt Schönfelder auch die negativen Folgen der Projekte: Sie verschlangen Mittel, die an anderer Stelle fehlten, wurden teurer und verzögerten sich, und waren durch Versalzung, Vernässung sowie das Fischsterben desaströs für die Umwelt (S. 266). Doch seine Behauptung: „Um die Schäden zu verschleiern, wurden Zahlen gefälscht und Gutachten geschönt. Es war ein System, in dem ‚jeder jeden hielt‘, in dem persönliche Gefallen über agrarischem und sozialem Nutzen standen“ (S. 267), stimmt nur vordergründig. Den Wasserbauern blieb angesichts ausbleibender Zulieferungen kaum eine andere Wahl. Sie trugen damit dazu bei, den schönen Schein zu wahren. Davon profitierte letztlich nur die Parteiführung. Die Wasserbauprojekte dienten der Parteiführung vor allem zur Selbstrechtfertigung. Das Wasserbauministerium fungierte in dieser Beziehung allein als „Dienstleister“ mit beschränktem Einfluss, und war keineswegs der Hauptbösewicht, zu dem Schönfelder es stilisiert. Die Parteiführer bis hin zu Michail Gorbačev verlangten geradezu nach immer neuen grandiosen Plänen, um der Bevölkerung vorzugaukeln, sie arbeiteten an der Erfüllung ihres Versprechens, das „Agrarproblem“ (die Lebensmittelversorgung) endlich zu lösen.

Verwunderlich ist, dass Schönfelder an keiner Stelle die Möglichkeiten in den Blick nimmt, die ordnungsmäßig durchgeführte Meliorationsprojekte hätten haben können. Er unterscheidet nicht zwischen sinnvollen und unsinnigen Projekten. Melioration war gerade unter den Bedingungen der Sowjetunion grundsätzlich eine sinnvolle und positive Maßnahme. Seine Behauptungen im Fazit sind, gelinde gesagt, zumindest einseitig überzogen. So war die Sowjetunion weder ein „Wasserbau-Staat“ noch eine „Spielwiese der Melioratoren“ (S. 266). Daraus, dass Brežnev Medunov und Andropov Gorbačev protegierten, kann man nicht ableiten: „Seilschaften der Wasserbauer zurrten Zentrum und Peripherie aneinander.“ (S. 266)

Der Autor referiert in den Kapiteln 3 bis 6, was er bei seiner überwiegend sehr sorgfältigen Auswertung der Literatur und im Archivmaterial gefunden hat. Wer an neuen Erkenntnissen zur Sowjetunion nach Stalins Tod interessiert ist, sollte diese Kapitel sorgfältig lesen und sich ein eigenes Urteil bilden. Um Schönfelders Arbeit zu einer beachtenswerten Studie zu machen, fehlen aber methodische Überlegungen und Mut zu eigenständigen Bewertungen.

Anmerkungen:
1 Christian Teichmann, Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien, Hamburg 2016; Julia Obertreis, Imperial Desert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Central Asia, 1860–1991, Göttingen 2017.
2 Julia Obertreis, Infrastrukturen im Sozialismus, in: Saeculum 58 (2007), S. 151-182; Klaus Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967, München 2010.

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